Schulversuch Talentschulen: Halbzeitbilanz

Ein Artikel der WAZ Gelsenkirchen (Sibylle Raudies):

2019 starteten die ersten 35 von 60 Talentschulen in NRW. Der Schulversuch soll gezielt Heranwachsende an Schulen in schwierigen Lagen fördern. Vier Gelsenkirchener Schulen – das Berufskolleg Königstraße, die Gesamtschulen Horst und Ückendorf sowie das Ricarda-Huch-Gymnasium – starteten in der ersten Runde, in der zweiten Runde 2020 war aus Gelsenkirchen nur das Berufskolleg Technik und Gestaltung dabei.

Der Schulversuch ist auf sechs Jahre angelegt, die Halbzeit ist somit klar überschritten. Grund für die WAZ Gelsenkirchen, bei den Schulen nachzuhören, was die Teilnahme bisher gebracht hat. Und wo es möglicherweise Verbesserungsbedarf gibt. Generell galt für Talentschulen: Es gibt einen Zuschlag auf den Grundstellenbedarf, aufwachsend auf bis zu 20 Prozent als zusätzliche Personalressource. Zudem gibt es 2500 Euro je Jahr und Schule für Fortbildungen sowie wissenschaftliche Begleitung. Wir haben Vertreter der drei in Gelsenkirchen teilnehmenden Schulformen nach ihren Erfahrungen befragt.

GSÜ: Sieben Extrastellen, aber 14 unbesetzte im Stammkollegium

Die Gesamtschule Ückendorf (GSÜ) hatte sich mit dem Schwerpunkt „Kultur“ erfolgreich beworben. Die Schule hat tatsächlich sieben Extrastellen als Talentschule bekommen. Aber: Die Schule ist trotzdem unterbesetzt. Im Gesamtkollegium sind 14 Stellen aktuell nicht besetzt. Die beiden Zusatz-Förderstunden, die dank Talentprojekt für den Jahrgang dazukommen, fehlen also im “normalen” Unterricht. Unterm Strich leidet die Schule somit weiter unter akuter Unterversorgung.
Im August beginnt für die GSÜ das vierte Versuchs-Jahr, der betreffende Jahrgang – der Versuch ist explizit für einen Jahrgang angelegt – schließt im August 2025 die Klasse 10 ab und scheidet damit aus dem Schulversuch aus. Dass grundsätzlich ein Talentjahrgang erwählt wurde statt einer Klasse je Jahrgang, sieht GSÜ-Leiter Achim Elvert ausgesprochen kritisch. Hätte es Vergleichsgruppen im gleichen Jahrgang gegeben, wären Erfolge der Extra-Förderung messbar gewesen.

„Wirksamkeit der Konzepte mangels Vergleichsklassen nicht möglich“
„So ist es kaum möglich, Schlüsse zu ziehen aus der Wirksamkeit der Konzepte,” bedauert er. Gleiches gelte für die Evaluierung allgemein, etwa durch den Sprachtest im sechsten Jahrgang. „Es gab im Jahrgang 5 keinen Test, sodass das Ausgangsniveau der Schülerinnen und Schüler nicht bekannt ist. Auch die weitere Sprachentwicklung wird nicht geprüft, es ist kein weiterer C-Test geplant” so Elvert. Die Förderstunden für kulturelle Bildung und Teilhabe gestaltet die GSÜ mit dem Consol Theater, eine Stelle wird dafür genutzt. Es gibt Sozialtraining und Sprachförderung; aber die durchaus guten, ausgearbeiteten Konzepte können laut Elvert wegen des Personalmangels nur eingeschränkt umgesetzt werden. Auf Besserung hofft Elvert durch das Start-Chancen Projekt des Bundes, für das der Bund eine Milliarde Euro gezielt für Schulen in schwierigen Lagen versprochen hat. Dabei sollte bei der Verteilung der Mittel nicht der an Einwohnerzahlen orientierte Königsteiner Schlüssel angewendet werden, sondern tatsächlich die soziale Situation der Schulen. Ob es dabei bleibt, ist noch unklar.

Ricarda-Huch-Gymnasium: Sprachtest nur in Klasse 6 bringt den Schulen wenig
Auch Michael Frey, Leiter des Ricarda Huch Gymnasiums (RHG), mag noch nicht wirklich urteilen über Erfolge des Talentschulprojektes. Der Sprachtest in der 6 bietet seiner Einschätzung nach eine sehr gute Datenbasis für die Wissenschaftler zum Stand in den Schulen: Für die Schulen selbst aber bringe das wenig, klagt auch er. Am RHG wird sprachsensibler Unterricht schon lange praktiziert, auch in Mathematik. Dank Talentschulprojekt könne man nun im Jahrgang 5 und 6 Musik- und Bewegungsangebote machen, im Jahrgang 7 und 8 werde kulturelle Teilhabe mit kreativem Schreiben unterstützt, beschreibt er die Umsetzung am RHG.

Instrumentalunterricht als Teil des Förderkonzeptes
Diese Form der Sprachförderung sei effizienter als manches innovative Angebot, bei dem Sprache nur in zweiter Linie eine Rolle spiele, ist er überzeugt. In Klasse 9 plant er mit Nachhaltigkeit als Thema, das in den Mint-Fächern in verschiedensten Facetten untersucht und debattiert werden soll. Zum Förderkonzept gehört am Ricarda auch der Instrumentalunterricht, der in der Coronazeit dank guter Ausstattung der Schule auch digital laufen konnte. „Ich hoffe, das Musikangebot kann auch nach Projektende fortgeführt werden”; so Frey.

Berufskolleg: Begleitung bis zum Berufsabschluss wäre sinnvoll

An den Berufskollegs darf das Talentschulprojekt nur in Ausbildungsgängen genutzt werden, die bis zum ersten Abschluss führen. Uwe Krakau, Leiter des Berufskollegs Technik und Gestaltung (btg), bedauert das, weil es sonst sehr helfen könnte, die Jugendlichen auch bei der Berufsvorbereitung fördernd zu begleiten, etwa bis zum Berufsabschluss. Positive Auswirkungen des Schulversuchs sieht er allerdings bereits. Dank Talentschule konnte an seiner Schule etwa sprachsensibler Unterricht auch für den Werkstattunterricht entwickelt und eingeführt werden, in Fortbildungen wurde die gesamte Abteilung geschult.

Sprachsensible Konzepte, Teamteaching und bessere Berufsorientierung als Plus
„Das ist besonders wichtig bei den Sicherheitsanweisungen und bei der berufsbezogenen Fachsprache, etwa wenn es um Handwerksgerät geht“, betont Krakau. Dabei werde auch mit Piktogrammen gearbeitet, um ein erstes Verstehen bei Sprachproblemen sicher zu stellen. Positiv wirkt aus seiner Sicht auch, dass in den Internationalen Förderklassen verschiedene Bereiche – Metall- und Elektrotechnik, aber auch Gestaltung – zusammengeführt wurden, um den Schülerinnen und Schülern, die als Förderschüler nicht nach Neigung die Fachrichtung aussuchen können, eine Berufsorientierung zu bieten. btg-Abteilungsleiterin Claudia Ortmann versichert: „Das wird sehr gut angenommen und es bietet Zugewanderten viel mehr Berufsperspektiven.“

Das btg bekam als Talentschule sechs zusätzliche Stellen. Genutzt werden sie vorrangig für Teamteaching und individuelle Förderung. Corona allerdings hat sich am btg wegen der nur teilweisen Digitalausstattung stark negativ ausgewirkt, weshalb Krakau und seine Stellvertreterin, Anja Kirch, hoffen, dass die Versuchszeit verlängert wird.

Die drei Gelsenkirchener Berufskollegsleiter, Gorden Skorzik, Uwe Krakau und Ralf Niebisch, in der KFZ-Werkstatt des btg. Sprachsensibler Unterricht ist für Internationale Förderschüler:innen, von denen es hier viele gibt, auch eine Frage der Sicherheit. Der Schulversuch half beim Erarbeiten von Konzepten dafür.
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